VERTREIBUNG AUS ARKADIEN
Ausschnitt aus dem Programmheftartikel zur Neuproduktion von «Manon» für das Opernhaus Zürich (2019)

 

Dem Leben am Anfang des Fin de Siècle ist das Bewusstsein eingeschrieben, dass sich durch die industrielle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zwangsläufig Veränderungen in allen Bereichen ergeben müssen. 

Das Kunstschaffen jener Zeit reflektiert dieses Zeitgefühl nicht nur auf den Theaterbühnen. So entfaltet sich beispielsweise in den Stadtansichten und gesellschaftlichen Szenen, die in den Gemälden von Édouard Manet, Camille Pissarro oder Gustave Caillebotte zu sehen sind, das städtische, gesellschaftliche, kulturelle und modische Leben als ein oszillierender Reigen aus Momentaufnahmen.

In der Oper «Manon» wird dem Publikum eine Abfolge von kontrastierenden Räumen gezeigt, die entweder die gesellschaftliche Arena oder Orte des Privaten repräsentieren. Von diesem Gegensatz zwischen Öffentlichkeit und Intimität ist nicht zuletzt auch die Institution des Theaters geprägt. Während auf der Bühne der Konflikt zwischen sozialer Welt und individueller Existenz verhandelt wird, sehen sich im Zuschauerraum alle Anwesenden mit ihrer Position im gesellschaftlichen Raum konfrontiert. Der transitorische Charakter Manons markiert in der Oper von Massenet vor diesem Hintergrund ein ganz bestimmtes Zeitgefühl am Ende des 19. Jahrhunderts, das keine verbindlichen Fixpunkte mehr kennt.

Reflektiert wird dieses Transitorische in einer Szene, in der Manon einer Ballettaufführung zuschaut. Eingebettet in das Treiben auf dem Cours-la-Reine kreiert die Vorstellung einen Moment der Konzentration. Die Szene zeigt, dass in einer Zeit, in der sich die Tableaus immer schneller ablösen und das Übergangshafte und Unverbindliche zum Dauerzustand werden, das Theater sein Publikum zu einem Innehalten zu lenken vermag. Während man in Gedanken versunken ist, zeigt sich im Erinnern plötzlich das wahre Gesicht eines Ereignisses. 

In der Oper «Manon» hat jedes Tableau seine eigene Wahrheit, weshalb das Geschehen erst zu dem Zeitpunkt zur Ruhe kommt, als Manon einen Schlussstrich unter ihre Geschichte zieht – und uns weiter spekulieren lässt.